„Freiheit ist zunächst einmal die Abwesenheit von Unterdrückung!“

Archiv der Universität Rostock, Studentenakte Arno Esch.

 

Das Schicksal des Rostocker Studenten Arno Esch

Mit der Verfolgung und Verurteilung des liberalen Freundeskreises um den Rostocker Jura-Studenten Arno Esch vernichtete die sowjetische Staatssicherheit die letzte bedeutsame bürger­liche Oppositionsgruppe in Mecklenburg und Vorpommern. Die neu gegründete DDR verstand sich als Volksdemokratie nach stalinistischem Vorbild. Demokratische Grundeinstellungen hatten darin keinen Platz. Der bei seiner Verhaftung erst 21-jährige Esch ragte nicht nur durch hohe Intellektualität aus der Gruppe heraus, sondern auch wegen seiner politischen Vorstel­lun­gen über die Gestaltung Europas in Freiheit und Frieden. Diese Ideen wirkten selbst nach seiner Ermordung über seinen Freund, den späteren Generalsekretär der FDP Karl-Hermann Flach, auf die Politik der Bundesrepublik Deutschland. Die SED-Machthaber versuchten in der DDR, jede Erinnerung an Arno Esch und seine Freunde zu tilgen.

Arno Esch wurde 1928 in Memel geboren und kam am Ende des Zweiten Weltkriegs über Altdamm bei Stettin nach Schönberg in Mecklenburg. Seit dem 11. Oktober 1945 besuchte er die Staatliche Oberschule für Jungen in Grevesmühlen, bestand – nachdem sein Kriegsabitur für ungültig erklärt worden war – im März 1946 die Reifeprüfung und studierte seit dem Som­mer­semester 1946 an der Universität Rostock Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Esch galt als überaus talentierter Nachwuchswissenschaftler. Seine Schwerpunkte in der Rechtswissenschaft waren Verfassungsrecht, Allgemeine Staatslehre und Völkerrecht. Bereits im siebten Semester verfasste Arno Esch eine Dissertation über das Thema: „Die Staatsgerichtshöfe in der deutschen Verfassungsentwicklung nach 1945 – ein Beitrag zur Lehre vom Schutz der Verfassung“, mit der er nach dem Abschluss der ersten Staatsprüfung im Herbst 1949 zum Dr. jur. promovieren wollte.

Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit machte Esch 1946 eine bemerkenswerte politische Karriere in der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD). Der Jungpolitiker brachte es dort bis zum Landesjugendreferent und Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstandes Mecklenburgs. Er verfasste Leitartikel in den Zeitungen „Der Morgen“ und „Norddeutsche Zeitung“ u. a. zu den Themen Verfassungsgerichtsbarkeit und Volkssouveränität, Abschaffung der Todesstrafe, Regierung und Volksvertretung, Freiheit und Eigentum, Friedensbewegung und sprach auf vielen Veranstaltungen der LDPD, der FDJ, des Demokratischen Blocks und der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (DSF), auf denen sich „der eigentliche Zauber seiner Persönlichkeit“ (Friedrich-Franz Wiese) entfaltete. Arno Esch konnte Kompliziertes einfach erklären und parierte gekonnt Zwischenrufe. Während einer LDP-Veranstaltung versuchten SED-linientreue Störer ihn mit dem Skandieren der marxistischen Definition von Freiheit als Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit aus der Ruhe zu bringen. Unter Beifall der Zuhörer belehrte Esch die Genossen: „Freiheit ist zunächst einmal die Abwesenheit von Unterdrückung!“ (Friedrich-Franz Wiese: Arno Esch – Erinnerungsreste, in: Mein Vaterland ist die Freiheit, hrsg. von Horst Köpke, Friedrich-Franz Wiese, Rostock 1997, S. 21.)  

Die LDPD zählte in Mecklenburg-Vorpommern nach der Zwangsvereinigung zur SED hinter der CDU als drittstärkste Kraft. Als einzige Partei in der SBZ verwarf sie jede Form von Sozialismus. Nach dem Tod des Gründungsmitglieds und langjährigen Vorsitzenden Wilhelm Külz arbeitete die neue Partei-Führung in der SBZ mit der SED loyal zusammen. Auf der Landesebene ging der Kampf allerdings weiter. Im Januar 1948 kam es zum Bruch zwischen der LDPD und der FDP. Damit fand sich Arno Esch – wie viele andere junge LDPD-Mitglieder – nie ab. Am 2. November 1948 lud er einige seiner engsten politischen Freunde nach Rostock ein und gründete im Hinterzimmer der LDPD-Kreis­ge­schäfts­stel­le die Radikal-Soziale Freiheitspartei, wenig später am 6. Februar 1949 in Demokratische Freiheitspartei Europas umbenannt.

Friedrich-Franz Wiese (hinten rechts) im November 1955, aus: Friedrich-Franz Wiese. Zum Tode verurteilt! Überleben im Gulag, Rostock 2009, S. 210.

Arno Esch und Friedrich-Franz Wiese wurden am 18. Oktober 1949 gemeinsam mit 12 anderen Mitgliedern der LDP aus dem gesamten Land Mecklenburg-Vorpommern verhaftet und in das SMT-Gefängnis am Demm­lerplatz in Schwerin überstellt. Das Hauptverfahren des Sowjetischen Militärtribunal (SMT) 48240 gegen die 14 Liberalen fand vom 18. bis 20. Juli 1950 statt und endete mit einem Todes­ur­teil gegen Esch und vier weitere Angeklagte wegen Spionage, antisowjetischer Propaganda und Aufbau einer konterrevolutionären Untergrundorganisation, die zehn anderen erhielten bis zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Danach wurde Arno Esch nach Moskau transportiert. Nachdem das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR das Urteil aufgehoben hatte, verurteilte das SMT des Militärbezirks Moskau Esch und zwei Mitangeklagte in einem zweiten Prozess, der vom 25. bis 26. Mai 1951 stattfand, erneut zum Tode durch Erschießen. Arno Esch stellte ein Gnadengesuch, welches das Präsidium des Obersten Sowjets am 19. Juli 1951 ablehnte.

Wahrscheinlich wurde Arno Esch in den späten Abendstunden des 24. Juli 1951 aus seiner Zel­le geholt. Zwei Mann hielten seine Arme hinter dem Rücken fest. Einer schritt vorneweg. Man teilte ihm mit, dass das Gnadengesuch abgelehnt worden war. Kurz vor Mitternacht wurde Arno Esch im Butyrka-Gefängnis erschossen, ebenso auch am gleichen Tag der Stralsunder LDP-Funktionär Gerhard Blankenburg und der LDP-Geschäftsführer Heinrich Puchstein aus Bergen. Im gleichen Verfahren sprachen die Sowjets gegen Karl-Heinz Neujahr (Stralsund), Friedrich-Franz Wiese (Parchim), Reinhold Posnansky (Anklam) und Kurt Kiekbusch (Anklam) Todesurteile aus. Neujahr verstarb in der Haft. Wiese wurde zu 25 Jahren Gulag begnadigt. Posnansky und Kiekbusch waren bereits am 29. März 1951 hingerichtet worden. In dem letzten Dokument, ein vorher ange­fer­tigtes Einäscherungsprotokoll, wurden nicht einmal mehr die Namen der hingerichteten Liberalen eingetragen, sondern lediglich Datum und Uhrzeit sowie die Anzahl der einge­äscher­ten Leichen per Unterschrift bestätigt. Ihre Asche bestattete man in einem anonymen Massen­grab auf dem Moskauer Friedhof Donskoje. Karl-Heinz Krumm, Walter Behrendt, Martin Kuhrmann, Hermann Groth, Helmut Mehl, Walther Neitmann und Klaus Lamprecht wurden zu 25 Jahren Gulag verurteilt.

Schreiben von Friedrich-Franz Wiese an Gorbatschow am 04.12.1988

 

Die Akte Esch

Friedrich Franz Wiese, Eschs engster Freund und einziger Überlebender der zum Tode Verurteilten, hatte in seinen Reden nach 1990 wiederholt darauf hingewiesen, dass die KGB-Akten Arno Eschs und seiner Mitstreiter im Herbst 1989 in die DDR gelangt sein müssten. Allerdings blieben die Unterlagen Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution unauffindbar. Wiese sollte recht behalten und hatte daran ganz entscheidenden Anteil: Die politischen Veränderungen in der Sowjetunion seit Mitte der 1980er-Jahre motivierten ihn im Dezember 1988 zu einer siebenseitigen Bittschrift an den Generalsekretär der KPdSU Michael Gorbatschow. Wenngleich Wiese keine Antwort aus Moskau erhielt, wurde das Auswärtige Amt unter Hans-Dietrich Genscher in dieser Sache aktiv und erreichte, dass das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR am 19. Juli 1990 Esch rehabilitierte. Allerdings gerieten die Überlebenden der Gruppe um Arno Esch, die kurz nach der Gründung der DDR verhaftet worden waren, 40 Jahre später im Herbst 1989 ein letztes Mal in Gefahr.

Am 21. August 1989 ersuchte der sowjetische Geheimdienst das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) um Rechtshilfe im Rehabilitierungsverfahren „Esch und andere“. Diese Vorgehensweise sollte die Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien suggerieren. Aber schon die ersten Maßnahmen des SED Geheimdienstes verdeutlichten, dass abweichende politische Meinungen nicht nur in der Phase des Zusammenbruchs keinen Platz in der DDR hatten, sondern auch verfolgt und bestraft wurden. Das MfS erstellte – ganz in „tschekistischer“ Manier – eine Liste der Verdächtigen mit anfangs 14 Namen und erweiterte diese bis Ende Oktober 1989 auf letztlich 40 kontinuierlich. Dieser Personenkreis wurde auf mehreren Ebenen geheimpolizeilich bearbeitet. Die Hauptabteilung IX des MfS, geleitet von Generalmajor Rolf Fister, begann umgehend damit, alle verfügbaren öffentlichen Informationen aus Publikationen der DDR und der Bundesrepublik zusammenzutragen. Des Weiteren wurden unzählige Suchaufträge in den geheimen Registraturen und Archiven der Staatssicherheit ausgelöst und bearbeitet, die allerdings nur wenig Material über die Verhaftung und den Prozess gegen den Freundeskreis Esch zutage förderte. Dagegen konnte das liberale Beziehungsgeflecht in den drei Nordbezirken sehr gut rekonstruiert werden, was den Kreis der Verdächtigen ständig erweiterte. Die wichtigste Ermittlungsebene zielte auf die im Herbst 1989 noch lebende Personengruppe, vor allem die, die in der DDR wohnten. Immerhin besaß das MfS selbst unter den 14 Angeklagten der Esch-Gruppe einen IM, der nach seiner Rückkehr aus dem Gulag 1954 bis zu seinem Tod aktiv war.

Am 1. November 1989 trafen sich um die Mittagszeit fünf Mitarbeiter der MfS-Hauptabteilung IX/11 mit dem sowjetischen Verbindungsoffizier Igor Peretruchin in Berlin, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Auf dieser Sitzung erhielten die MfS-Offiziere auch das Schreiben von Friedrich-Franz Wiese an Gorbatschow und vor allem die sowjetischen Akten der Gruppe Esch, bestehend aus sechs Bänden. Diese Originaldokumente durften von der Staatssicherheit kopiert und mussten am 10. November 1989 an das „Bruderorgan“ zurückgegeben werden. Während die Grenzen der DDR geöffnet wurden und die Bevölkerung gegen die SED-Führung und ihren Sicherheitsapparat demonstrierte, weitete das MfS seine Ermittlungen gegen die westdeutschen Politiker Karl-Hermann Flach und Hans-Günther Hoppe, die mit Esch befreundet waren, aus. Selbst gegen Wiese eröffnete die Staatssicherheit am 24. November ein Ermittlungsverfahren, das am 4. Dezember nach erfolgreichen Recherchen im Archiv der Universität Rostock auf drei ehemalige Studenten ausgeweitet wurde. Mit einem rechtsstaatlichen Rehabilitierungsverfahren hatte das alles nichts zu tun. In der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember 1989 hatte der Spuk endlich ein Ende: Die Vertreter der DDR-Bürgerbewegung verschafften sich in vielen Kreis- und Bezirksdienststellen des MfS Zutritt und übernahmen diese. Ein letztes Schreiben in Sachen Esch erreichte am 5. Dezember 1989 den Leiter des in Amt für nationale Sicherheit umbenannten Ministeriums für Staatssicherheit Wolfgang Schwanitz. Rolf Fister informierte, dass gegenwärtig „jedoch noch nicht eingeschätzt werden [kann, F. M.], ob die Verurteilung der 14 Angeklagte umfassenden Gruppe tatsächlich auf falschen Anschuldigungen beruhte.“ (BStU, MfS HA IX/11 RHE Nr. 44/89, Bd. 8, Bl. 3) Der Stasi blieben ihre Opfer bis zum Schluss gleichgültig.

Fred Mrotzek