Die Nachgeschichte

Bestätigung, dass Arno Esch am 24. Juli 1951 verstorben ist, BStU MfS HA IX/11 RHE Nr. 44/89, Bd. 5, Blatt 473.

Der Mann mit der Fleischerschürze 

In den letzten Lebenswochen nach der Verkündung der Todesstrafe für Arno Esch steigerte die sowjetische Justiz ihre Allmacht bis zur unermesslichen Grausamkeit. Esch wartete ohne see­lischen Beistand in einer Einzelzelle im Butyrka-Gefängnis auf das ungewisse Datum sei­ner Hinrichtung. Aus Sicht der Verantwortlichen handelte es sich bei den Verurteilten um „Abfall“ – „menschlicher Müll“, der nur noch entsorgt werden musste. Über diese Wochen wie auch den Tag der Hinrichtung selbst existieren keine schriftlichen Quellen. Deshalb kön­nen in diesem Zusammenhang viele Fragen nicht oder nur unvollständig beantwortet werden. In den überlieferten MfS-Kopien der KGB-Akten bestätigt der „Leiter der Unterabteilung von Abteilung ‚A‘ des MGB Oberstleutnant Worobjew“ die Erschießung Arno Eschs am 24. Juli 1951.

Auf dem Moskauer Friedhof Donskoje befindet sich hinter dem ehemaligen Krematorium ein Massengrab, in dem auch die Asche von Arno Esch vergraben wurde. Ein Gedenkstein erinnert seit 2005 an die deutschen Ofer, Foto von Galina Roslova, Mai 2021.

Die Tötungen fanden im Butyrka-Gefängnis zumeist in den Abendstunden statt. Un­mit­tel­bar vor der Hinrichtung erfolgte die Personenfeststellung, d. h. in einem maschinen­schrift­lichen Vordruck mit der Bestätigung, dass die Person des zum Tode Verurteilten per Foto und Angaben des Lebenslaufes überprüft wurde, ergänzte der unterschreibende Staats­an­walt nur noch handschriftlich den Namen, manchmal auch das Geburtsjahr. Der gleiche Jurist unterzeichnete auch die Urteilsvollstreckung. Bei den Exekutionen waren hohe Offiziere der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft anwesend. Diese Namen wie auch der von Arno Eschs Henker sind nicht überliefert. Die Vollstreckungen lagen im Aufgabenbereich der Kommandanten­un­ter­abteilung der Geschäftsführung des MGB, geleitet durch den berüchtigten Generalmajor Wassilij Blochin, der, um seine Uniform vor Blutflecken zu schützen, bei den Erschießungen immer eine Fleischerschürze trug und persönlich viele tausende Menschen getötet hatte. Das Protokoll der Einäscherung, in dem keine Namen mehr auftauchten, sondern nur noch die An­zahl und das Datum der verbrannten Leichen, war vorbereitet. Auch hier finden sich die Un­ter­schriften von Blochin und Worobjew. Die Asche Arno Eschs wurde hinter dem Krema­to­ri­um auf dem Moskauer Friedhof Donskoje verscharrt. (vgl. „Erschossen in Moskau …“ Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953, hrsg. von Arsenij Roginskij, Frank Drauschke, Anna Kaminsky, Berlin 2008, S. 66.)

Blochin fiel nach dem Tod Stalins in Ungnade, nahm sich 1955, gezeichnet vom Alko­hol, das Leben und wurde auf dem gleichen Friedhof bestattet wie seine unzähligen Opfer.

Martin Kuhrmann Ende Dezember 1953 nach seiner Rückkehr aus dem Gulag, Volker Haberkorn: 5 Männer – 5 Schicksale von der Insel Rügen, Bergen 2014, S. 27.

Die Überlebenden

Die zu 25 Jahre verurteilten Martin Kuhrmann, Helmut Mehl, Walther Neitmann und Klaus Lamprecht wurden nach dem Tod Stalins Ende Dezember 1953, Walter Behrend und Her­mann Groth 1955 in die DDR entlassen. Alle ehemaligen Häftlinge waren von den Strapazen der Prozesse, der Haft und des Zwangsarbeitslagers gesundheitlich gezeichnet. Der Schuh­ma­cher­meister Walter Behrend starb bereits im April 1959 kurz vor seinem 60. Geburtstag. Walter Neitmann arbeitete nach seiner Entlassung weiter als Optikermeister in Bergen. Er wurde nur 51 Jahre alt und verstarb 1961 an einem Schlaganfall. Der Sattlermeister Martin Kuhrmann, Jahrgang 1907, arbeitete bis zu seinem Tod 1971 in seiner Werkstatt in Bergen. Helmut Mehl lebte nach seiner Entlassung in Stralsund. Über ihn und Hermann Groth ist das weitere Schicksal unbekannt.

Schreiben K 5 vom 18. März 1949 zur Überprüfung der Jugendleiter der LDP, BStU MfS HA IX/11 RHE Nr. 44/89, Bd. 8, Blatt 160.

Karl-Heinz Krumm kam nicht in seine Heimatstadt Rostock zurück. Er wurde im Dezem­ber 1955 in die Bundesrepublik Deutschland entlassen. Vor seiner Verhaftung war Krumm bereits Volontär bei der „Norddeutschen Zeitung“ und lernte hier auch den späteren FDP-Politiker Karl-Hermann Flach kennen. Dieser unterstützte seinen Freund und holte Krumm zur „Frankfurter Rundschau“, bei der Flach in den 1960er-Jahren als stellvertretender Chefredakteur tätig war. Karl-Heinz Krumm ging 1990 in den Ruhestand und verstarb 1992 nach einem Badeunfall. Friedrich-Franz Wiese kam mit dem gleichen Transport wie Karl-Heinz Krumm im Dezember 1955 in die Bundesrepublik. Hier beendete er sein Chemie­stu­dium, promovierte 1963 und arbeitete von 1965 bis zu seiner Pensionierung 1990 als Chemi­ker bei der BASF. Wiese, der anfangs vermutete, auch Esch sei begnadigt worden, engagierte sich Zeit seines Lebens für die Aufklärung des Schicksals seines Freundes. Ihm ist es zu verdanken, dass eine Kopie der Prozessakten im Herbst 1989 zur Staatssicherheit in die DDR gelangte. Er starb im Oktober 2009 und erlebte das Auffinden der Akten in der BStU nicht.

Klaus Lamprecht hatte mit der Gruppe Esch am wenigsten zu tun. Trotzdem wurde er zu 25 Jahren verurteilt und war der einzige überlebende Zeitzeuge des zweiten Prozesses gegen Esch in Moskau. Lamprecht wurde 1953 entlassen. Er lebte ab 1956 in Stralsund, stu­dier­te in Warnemünde und machte in der DDR als Maschinenbauingenieur in der Schiffbau­in­dus­trie Karriere. Nach der Wende war Klaus Lamprecht ein gefragter Zeitzeuge. Er starb am 1. Januar 2003 und nahm sein größtes Geheimnis mit ins Grab.

Im Visier des Geheimdienstes   

Das MfS hatte bis zum Untergang der DDR großes Interesse an den Überlebenden des libera­len Kreises um Arno Esch. In den Akten des Ostbüros der FDP findet sich ein anonymer Be­richt über angebliche Verhandlungen mit der DDR-Staatssicherheit im Februar 1951 um die Frei­lassung von Esch und den Mitinhaftierten. Als Gegenleistung sollte Belastungsmaterial gegen den Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann übergeben werden, da Hermann Kast­ner, Vorsitzender der LDPD, angeblich den Sturz Dieckmanns plante. (vgl. Ines Soldwisch: „… etwas für das ganze Volk zu leisten und nicht nur den Zielen einer Partei dienen …“ Geschichte der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) in Mecklenburg 1946–1952, Berlin 2007, S. 236.) Diese Konstellation scheint mehr als abenteuerlich, zumal es in den sowjetischen Prozessakten darauf keine Hinweise gibt. Allerdings wurde durch die Kriminal­po­lizei 5 (K 5, Vorgängerorganisation des MfS) bereits im Dezember 1948 die Überprüfung aller Jugendleiter der LDP in Mecklenburg und Sachsen veranlasst.

Auszug der Übergabe (3. Juni 1957) des GI „Leo“ von der MfS-Kreisdienstelle Rügen an die MfS-Kreisdienststelle Stralsund, BStU MfS HA I/X11 RHE Nr. 44/89, Bd. 13, Blatt 12.

Einen Coup gelang dem MfS in der Bundesrepublik. Die DDR-Spionin Sonja Lüne­burg (richtiger Name: Johanna Olbrich) wurde die Sekretärin von Karl-Hermann Flach, nach­dem dieser 1972 für die FDP in den Deutschen Bundestag gewählt und stellvertretender Vor­sit­zender der Bundestagsfraktion geworden war.

Innerhalb der DDR hatte das MfS ganz andere Möglichkeiten. Keine vier Monate nach seiner Rückkehr aus dem Gulag verpflichtete sich Klaus Lamprecht am 22. April 1954 als Geheimer Informant (GI, später dann IM) unter dem Decknamen „Leo“. Die persönlichen Gründe bleiben unklar. Lamprecht war zu diesem Zeitpunkt arbeitslos und wurde nach seiner Verpflichtung durch die Staatssicherheit beruflich protegiert. Das MfS konnte mit „Leo“ mehr als zufrieden sein. Anfangs fanden die Treffen zum Teil wöchentlich statt. Lamprecht erschien immer pünktlich und erfüllte die ihm gestellten Aufgaben. Er wurde speziell auf die heimgekehrten ehemaligen SMT-Verurteilten angesetzt. Eine seiner ersten Aufgaben bestand darin, eine schriftliche Charakteristik über seinen Freund Martin Kuhrmann zu verfassen. Schon im Juni 1954 erweiterte das MfS den Aufgabenkreis Lamprechts. Er berichtete über weitere Personen aus seinem Bekanntenkreis, bekam den Auftrag, sonntags den Gottesdienst der evangelischen Kirche in Bergen zu besuchen, eine Beurteilung des Pastors anzufertigen und sich das Vertrauen des Geistlichen zu erarbeiten. Alle diese Aufgaben erfüllte „Leo“ zur vollsten Zufriedenheit, nur bei der Erstellung einer Liste aller ihm bekannten ehemaligen LDP-Mitglieder brauchte er etwas mehr Zeit. Die Staatssicherheit mahnte die Erledigung dieses Auftrages an und bestellte Lamprecht am 9. September 1954 zu einem inoffiziellen Treffen, das von 18.00 bis 20.30 Uhr ungewöhnlich lange dauerte. In dieser Zeit verfasste Lamprecht mehrere handschriftliche Berichte, unter anderem auch über Arno Esch und die LDP-Mitglieder, mit denen er in sowjetischer Gefangenschaft war. Damit war diese Zusam­men­arbeit aber nicht beendet. Lamprecht arbeitete weiterhin als IM viele Jahrzehnte für die Staatssicherheit. Seine Berichte waren eine Grundlage dafür, dass der liberale Bekanntenkreis um Arno Esch auch in der DDR verfolgt wurde. Dabei geriet die Universität Rostock ganz gezielt ins Visier des MfS.

Nach Eschs Verhaftung waren die offene Konfrontation mit der SED an der Universi­tät Rostock und der Einfluss der bürgerlichen Hochschulgruppen auf die Studentenschaft zwar weitestgehend beendet. Die SED-Führung der Universität akzeptierte ausschließlich die FDJ, deren Hochschulgruppe allerdings – anfangs unorganisiert und unsystematisch – von bür­ger­lichen Studenten seit 1949 unterwandert wurde. Es folgten dennoch weitere Verhaftungs­wel­len. Im Juli 1950 wurde u. a. Roland Bude, der in die FDJ-Hochschulgruppenleitung gewählt worden war und sich geweigert hatte, in die SED einzutreten, verhaftet und vom SMT zu 25 Jahre Gulag verurteilt. Schlimmer traf es ein Jahr später im Juni 1951 die Gruppe um den Sport­studenten Karl-Alfred Gedowsky, zu der auch Alfred Gerlach, Otto Mehl, Brunhilde Albrecht, Hartwig Bernitt und Gerald Joram gehörten. Gerlach und Gedowsky wurden im Dezember 1951 zum Tode verurteilt. Die anderen erhielten 25 Jahre, Brunhilde Albrecht 15 Jahre Zwangsarbeitslager. Gedowsky wurde am 26. März 1952 hingerichtet, Gerlach zu 25 Jahren begnadigt. Die Ermittlungen des MfS um die Gruppe Gedowsky führten zu weiteren Ver­haftungen. Im August 1954 wurden weitere Studenten und drei wissenschaftliche Assis­ten­ten inhaftiert, darunter Dr. Gerhard Meinl, der wegen Boykotthetze sechs Jahre Zuchthaus bekam.

Von den Verhaftungswellen an der Rostocker Universität waren rund 80 Studenten und Mitarbeiter betroffen. Aber auch im Land Mecklenburg-Vorpommern suchte die Staatssicherheit fieberhaft weiter nach Esch-Sympathisanten. In Güstrow beispielsweise wurde eine Oberschülergruppe um Peter Moeller am 16. September 1950 während einer Flug­blattaktion gegen die bevorstehenden Wahlen zur Volkskammer der DDR verhaftet. In einem Schauprozess, der im Güstrower Hotel „Zachow“ stattfand, verhängte das Gericht am 27. September 1950 gegen Moeller und seine Freunde drakonische Strafen – zwischen fünf und 15 Jahren Zuchthaus. Den damals erst 17-jährigen Enno Enke belegten die Richter mit dem für Jugendliche höchstmöglichen Strafmaß von zehn Jahren. Peter Moeller kam erst im No­vem­ber 1956 frei und floh nach West-Berlin. Das MfS ermittelte in den nächsten Jahrzehnten in fast allen Städten der Bezirke Schwerin, Rostock und Neubrandenburg weiter gegen LDP-Mitglieder, die Kontakt zu Arno Esch hatten. Letztmalig konnte die Staatssicherheit im Mai 1983 eine Person ermitteln, die der „Untergrundbewegung Arno Esch“ zugeordnet werden konnte. Und so blieb Esch gewissermaßen auch nach seinem Tod letztlich bis zum Zusam­menbruch der DDR unter „Beobachtung“ des MfS. Denn Demokraten sind gefährlich – vor allem für Diktaturen!     

Fred Mrotzek