Ostseefluchten aus der DDR. Eine deutsch-deutsch-skandinavische Verflechtungsgeschichte
Projektleiter: Prof. Dr. Stefan Creuzberger (Universität Rostock), Dr. Volker Höffer (BStU-Außenstelle Rostock) Projektbearbeiter: Dr. Florian Detjens (Universität Rostock), Jesper Clemmensen (Kopenhagen/Dänemark)
Als Folge des Zweiten Weltkriegs und der anschließenden Teilung Europas senkte sich auch auf der Ostsee ein „Eiserner Vorhang“ ab. Einstmals miteinander vernetzte Regionen waren plötzlich getrennt, blieben aber über das Meer weiterhin verbunden. Für nicht wenige Ostdeutsche weckte der Blick über die Ostsee in Richtung Bundesrepublik, Dänemark oder Schweden Sehnsucht nach einem freien, selbstbestimmten Leben in zunehmendem wirtschaftlichem und sozialem Wohlstand.
Die Fluchtbewegungen aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der DDR über die Ostsee setzten bereits unmittelbar nach Kriegsende und nicht erst mit dem „Mauerbau“ 1961 ein. Deren Dimension und Verlauf liegen aber noch weitgehend im Dunkeln. In Skandinavien führte dies zu innenpolitischen Debatten darüber, wie mit dem Fluchtproblem umgegangen werden sollte. Schließlich vermutete man nicht zu Unrecht unter den Geflohenen ehemalige Nazis. Offenbar wurden deshalb auch Flüchtlinge aus der SBZ/DDR in Aufnahmelagern untergebracht, überprüft und sogar zurückgeschickt. Gleichzeitig gingen sowjetische und ostdeutsche Sicherheitsorgane immer massiver gegen fluchtwillige Bürger vor. Diesen bislang weißen Fleck zu füllen, ist ein Anliegen des Forschungsprojektes.
Alleine zwischen „Mauerbau“ 1961 und „Mauerfall“ 1989 haben nach bisherigen Kenntnissen rund 5.600 Menschen versucht, über das kleine, aber tückische Meer der zweiten deutschen Diktatur zu entfliehen. Nur knapp 1.000 von ihnen gelang es, den „Eisernen Vorhang“ etwa im Falt- oder Segelboot, manchmal sogar nur schwimmend, zu überwinden. Mal wurden sie von Helfern auf offener See aufgegriffen, mal schafften sie es aus eigener Kraft an die schleswig-holsteinische, dänische oder schwedische Küste. Doch die allermeisten wurden bereits im Vorfeld oder während des Fluchtversuches entdeckt, verhaftet und in der Regel zu hohen Haftstrafen verurteilt. Zudem kamen mindestens 170 Frauen, Männer und Kinder bei der Flucht in die Freiheit ums Leben.
Nicht nur für die Innen- und Außenpolitik des SED-Regimes spielte diese Fluchtbewegung eine Rolle, demaskierte sie doch die sozialistische Diktatur. Auch die Bundesrepublik, Dänemark und Schweden waren davon betroffen. Denn jeder Geflohene stellte eine Bewährungsprobe für die Kontakte der westlichen Staaten mit der DDR dar. Und jeder dabei ums Leben Gekommene war nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern zugleich ein Politikum. Wie wurde darauf nun reagiert und welche innen- und/oder außenpolitischen Motive und Zielstellungen steckten dahinter? Welchen Einfluss übten zudem die Fluchten, die Verfolgungen und Verhaftungen von Flüchtenden selbst in internationalen oder gar den eigenen Territorialgewässern auf die Beziehungen Schwedens, Dänemarks und der Bundesrepublik zur DDR aus? Wie gestaltete sich der gesellschaftliche, aber auch der persönliche Umgang mit den DDR-Ostseeflüchtlingen bei bzw. nach deren erfolgreicher Anlandung? Mit Blick auf die internationale Dimension gilt es überdies zu ergründen, inwieweit sich die Problematik der Ostseefluchten auf bilaterale Verträge, offizielle Annäherungs- und Entspannungsbestrebungen, aber auch auf angebahnte Wirtschaftskooperation zwischen der real-sozialistischen DDR und den westlich-skandinavischen Anrainern auswirkte.
Diesem Forschungsdesiderat als eines der düsteren Kapitel der deutsch-deutschen Teilung widmet sich nun ein von der Gesellschaft zur Erforschung der Zeitgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns e.V. (GEZMV) beim Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer eingeworbenes und an der Universität Rostock durchgeführtes Projekt. Das Agieren, Reagieren und Interagieren von SBZ/DDR und westlichen Ostsee-Anrainerstaaten soll fortan im Rahmen einer deutsch-deutsch-skandinavischen Verflechtungsgeschichte systematisch erforscht werden.