Geschichte und Struktur des Bestands

 

Nicht auffindbar?

Vom 21. August bis 5. Dezember 1989 trugen die MfS-Offiziere in acht weiteren Aktenordnern ihre Erkenntnisse über den Freundeskreis Esch zusammen. Der ursprüngliche Bestand der sowjetischen Geheimdienstunterlagen umfasste sechs Bände. In den Wochen des Zusammenbruchs der DDR waren vor allem die von der Staatssicherheit aktuell bearbeiteten Fälle der Vernichtungsgefahr ausgesetzt. Warum das Esch-Material erhalten blieb, kann nur vermutet werden. Vielleicht schien es zu unwichtig oder aber man sicherte es gezielt vor der Zerstörung, denn immerhin handelte es sich um ein Rehabilitierungsverfahren, in dem das MfS unbelastet schien.

Gedenktafel für Arno Esch im Foyer des Hauptgebäudes der Universität Rostock

Bis zur friedlichen Revolution blieb die Erinnerung an die liberale Studentengruppe um Arno Esch von offizieller Seite unerwünscht. Das änderte sich im Herbst 1989. Bereits 1957 hatten ehemalige Studenten, die aus politischen Gründen die DDR verlassen mussten, in Tübingen den Verband ehemaliger Rostocker Studenten (VERS) unter dem Vorsitz von Hartwig Bernitt gegründet. Die einzigartige Alumni-Vereinigung stand seit der Festveranstaltung in Kiel im Mai 1969 zum 550-jährigen Bestehen der Universität Rostock im Fokus des MfS. Im Herbst 1989 verlagerte der Verband seine Aktivitäten erfolgreich nach Mecklenburg-Vorpommern. Schon seit 1990 erinnert im Foyer des Hauptgebäudes der Universität Rostock eine Gedenktafel an Arno Esch, dessen Schicksal zum Symbol des demokratischen Erneuerungsprozesses an der Universität wurde. In den folgenden Jahren organisierte der VERS eine Vielzahl von wissenschaftlichen Veranstaltungen und Seminaren mit dem Ziel, die Schicksale aller politischen Verhafteten an der Universität Rostock aufzuklären. Im Mittelpunkt der Schriftenreihe des VERS stand auch immer wieder der Freundeskreis um Arno Esch, fast ausschließlich auf der Grundlage der Erinnerungen von Zeitzeugen. Intensiv, allerdings erfolglos wurde nach den russischen Akten in verschiedenen Archiven recherchiert.

Erst im Zuge der Überführung und Sicherung der Hinterlassenschaft des MfS in die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) wurden auch die russischen Kopien des Verfahrens gegen Arnos Esch sowie die Stasi-Ermittlungen aus dem Jahr 1989 archivalisch verzeichnet. Allerdings bewirkte die Übernahme des ursprünglichen Aktentitels der Hauptabteilung IX in diesem speziellen Fall, dass die Unterlagen unter den Namen der Betroffenen nicht recherchierbar waren. In einer ganzen Reihe von Forschungsvorhaben suchten Historiker ohne Erfolg nach den Dokumenten. 2010 begann die an der Universität Rostock angesiedelte Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland (FDS) mit der Erarbeitung einer Datenbank, in der alle in dem ehemaligen MGB-, später dann MfS-Gefängnis am Demmlerplatz in Schwerin von 1945 bis 1949 inhaftierten politischen Gefangenen verzeichnet werden sollten. Die systematische Recherche nicht nur nach der Provenienz der Namen, sondern auch der Pertinenzen aller MfS Abteilungen führte im August 2012 zum Auffinden der Akten.

 

Struktur einer Geheimdienstakte

Das Schriftgut des MfS lässt sich nicht ohne besondere Vorkenntnisse auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen lesen und verstehen. Die organisatorische Struktur und Arbeitsweise das MfS hatte sich im Laufe ihres Bestehens verändert und mit der Zunahme der juristischen Verfolgung politischer Gegner professionalisiert. Das führte letztlich auch zu einer verstetigten Aufblähung des Verwaltungsapparates vor dem Hintergrund der anwachsenden Aufgaben, die den Charakter als verlängerten Arm der SED-Herrschaft („Schild und Schwert der Partei“) verdeutlichen. Die lange Laufzeit des „Bestandes Arno Esch“ vom Oktober 1949 bis Dezember 1989 sowie die wechselnde Federführung – vom sowjetischen auf den ostdeutschen Geheimdienst – erschweren die genetische und systematische Analyse der Überlieferung zusätzlich. Eine Gemeinsamkeit durchzieht jedoch das historische Schriftgut: Auf den ersten Blick scheinen die Verurteilten einen fairen Prozess durchlaufen zu haben. Von den Ermittlungen über die Urteile bis hin zu den Gnadengesuchen und Hinrichtungen sollte alles rechtstaatlich aussehen!

 

Die sowjetischen Akten

Der Aktenbestand umfasst 14 Bände. Die ersten sechs sind in Russisch und haben eine Laufzeit von 1949 bis Mitte der 1950er-Jahre. Band 1 bis 4 beinhalten die Protokolle der Verhaftungen, Durchsuchungen, Leibesvisitationen und vor allem der vielen Vernehmungen. Alle Beschuldigten durchliefen exakt dieselbe Prozedur und mussten jedes einzelne Blatt der in Russisch geschriebenen Verhöre handschriftlich unterschreiben. Es scheint mehr als fraglich, ob die jungen Männer überhaupt ansatzweise nachvollziehen konnten, was sie bestätigt hatten. Der umfangreichste Band 1 beinhaltet die „Ermittlungen“ gegen Arno Esch und seinen Stellvertreter der neu gegründeten Partei Friedrich-Franz Wiese. Die beiden tauchen dann wieder gesondert in den Gegenüberstellungen in Band 4, Blatt 342 bis 349, auf. Band 2 enthält nach dem gleichen Schema die Unterlagen über Gerhardt Blankenburg, Reinhold Posnanski, Helmut Mehl, Hans-Georg Neujahr, Band 3 Kurt Kiekbusch, Heinrich Puchstein, Klaus Lamprecht sowie Band 4 Hermann Groth, Walter Behrendt, Walter Neitmann, Martin Kuhrmann und Karl-Heinz Krumm. Bereits die Aktenführung verdeutlicht eine Hierarchie der Beschuldigten, die sich dann später auch in den Urteilen wiederfindet: Alle inhaftierten Mitglieder des Freundeskreises um Arno Esch aus dem Band 4 werden zu 25 Jahren Gulag verurteilt und überleben. Es muss also bereits vor den Verhaftungen umfangreiche Absprachen gegeben haben. Im Band 5 ist der gesamte Prozess von den administrativen Voraussetzungen, der Anklageschrift, dem Protokoll der vorbereitenden Sitzung, der eigentlichen Gerichtsverhandlung und den Urteilen bis hin zu den Gnadengesuchen (auch die russischen Übersetzungen), den Entsendungen in die Lager, die Leichenöffnung des in Haft verstorbenen Georg Neujahr und letztlich die Entlassungen der Überlebenden dokumentiert. Die sowjetische Überlieferung schließt mit den Beweismitteln im Band 6. Hier finden sich die während der Wohnungsdurchsuchungen beschlagnahmten persönlichen Aufzeichnungen, wie zum Beispiel Eschs Protokollmitschriften, Redemanuskripte, strategische Überlegungen zum Aufbau der neugegründeten Partei, aber auch Ausweise verschiedener Organisationen. Das gesamte Schriftgut wurde ins Russische übersetzt.

 

Die deutschen Akten

Die acht Aktenbände des MfS haben einen erheblich geringeren Umfang als die sowjetischen und machen insgesamt einen unabgeschlossenen Eindruck. Die Stasi-Bearbeiter beendeten ganz offensichtlich nach der Besetzung der MfS Kreis- und Bezirksdienststellen durch die DDR-Bürgerbewegung Anfang Dezember 1989 ihre Tätigkeit. Die Aktenführung ist uneinheitlich und wechselt zwischen buch- und geschäftsmäßig. Da den MfS-Offizieren anfangs lediglich das Schreiben Friedrichs-Franz Wieses an Michael Gorbatschow vom 4. Dezember 1988 durch das sowjetische Bruderorgan ausgehändigt wurde, fokussierte sich die Ermittlungsarbeit auf Wieses Umfeld und die Geschichte der liberalen Bewegung. Im Band 10 tauchen plötzlich Recherchen über die vermutete deutsche Kriegsgefangenschaft eines sowjetischen Soldaten auf. In den folgenden Akten werden dann die Ergebnisse der unzähligen Suchanfragen in den Archiven und Registraturen des MfS zusammengetragen. Band 14 enthält schließlich eine handschriftliche Übersetzung des Urteils vom 20. Juli 1950 und einiger Vernehmungsprotokolle von Friedrich-Franz Wiese, Helmut Mehl, Hans-Georg Neujahr, Gerhard Blankenburg, Kurt Kieckbusch, Heinrich Puchstein, Klaus Lamprecht und Arno Esch. Die Auswahl der übersetzten Schriftstücke vermittelt insgesamt einen eher willkürlichen Eindruck.

Fred Mrotzek